Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Projekt "Vormoderne Verfahren"

Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Projekt "Vormoderne Verfahren"

Projektträger
Westfälische Wilhelms-Universität Münster ()
Ausrichter
Ort des Projektträgers
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.04.2005 - 31.03.2010
Von
Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Dr. André Krischer

Unter Verfahren kann man Handlungssequenzen verstehen, deren äußere Form (unter Umständen rechtlich) geregelt ist und die der Herstellung legitimer, allgemein verbindlicher Entscheidungen dienen [Grundlegend: Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M. 1993 (Originalausgabe 1969), daran anschließend Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Vormoderne politische Verfahren (ZHF Beiheft 25), Berlin 2001, darin bes. dies., Einleitung, 9-24, und Michael Sikora, Der Sinn des Verfahrens. Soziologische Deutungsangebote, 25-51].

Die faktische gesellschaftliche Akzeptanz von Verfahrensentscheidungen, über deren sachliche Richtigkeit gleichwohl Zweifel und sogar Dissens bestehen kann, ist nicht selbstverständlich, sondern in hohem Maße erklärungsbedürftig. Wieso gewinnt ein Gesetz, ein Gerichtsurteil, eine Verwaltungsentscheidung etc. Geltung auch dann, wenn dies von einzelnen oder vielen Betroffenen inhaltlich als falsch beurteilt wird? Es ist als Spezifikum komplexer moderner Gesellschaften beschrieben worden, daß politische Legitimation nicht mehr von unvordenklicher Tradition, geheiligter Autorität oder tatsächlichem inhaltlichen Konsens abhängt, sondern durch formale Verfahren gestiftet wird. Das heißt, daß Entscheidungen dann und deshalb als allgemein verbindlich akzeptiert werden, wenn sie auf eine spezifische, formal geregelte Weise zustandegekommen sind. Das ist - so die These - in dem Maße der Fall, wie die Verfahren eine gewisse Autonomie gegenüber den gesellschaftlichen Strukturen erwerben, in die sie eingebettet sind. D.h., daß sie als formale Verfahren überhaupt aus den alltäglichen Handlungsabläufen sichtbar herausgehoben sind, daß sie spezifische Verfahrensrollen ausgebildet haben, die das Handeln der Akteure von ihrem Handeln außerhalb des Verfahrens abgrenzen, daß sie ihre eigenen Rekrutierungsregeln besitzen, ihrer eigenen Verfahrenslogik folgen usw.

Das Projekt will an ausgewählten Beispielen untersuchen, inwiefern und auf welche Weise es dazu gekommen ist. Die Frühe Neuzeit gilt als die Epoche, in der sich Recht, Politik, Religion usw. als eigenständige gesellschaftliche Funktionssysteme ausdifferenziert haben, was zugleich heißt, daß sie voneinander abgrenzbare gerichtliche, gesetzgeberische, verwaltungstechnische, religiöse usw. Verfahren ausgebildet haben. Die Erforschung frühneuzeitlicher Verfahren kann einen Schlüssel zum Verständnis epochenspezifischer Funktionsweisen, Rationalitäten, Möglichkeiten und Grenzen von Politik und Recht als stabilen institutionellen Ordnungen und einen Einblick in Ausdifferenzierung von Institutionen bieten. Dabei kann an Vorarbeiten angeknüpft werden, die vor allem ständische Wahl- und Partizipationsverfahren in der Vormoderne zum Gegenstand hatten. Ausgangspunkt dieser Arbeiten war die Frage, welche Rolle die symbolisch-expressive Dimension für die Herausbildung und die Leistungskraft von Verfahren spielt. Dabei gehen wir von der Prämisse aus, daß jedes menschliche Verhalten immer eine symbolisch-expressive Seite besitzt, sich also nie auf eine instrumentelle Funktion reduzieren läßt. D.h., ein Verfahren erschöpft sich nie in der instrumentellen Dimension, eine Entscheidung herzustellen, sondern besitzt immer auch unterschiedliche symbolisch-expressive Dimensionen, etwa den Entscheidungsprozeß selbst, die Rollen der Akteure usw. darzustellen. Symbolische Formen (etwa: Kleidung, Insignien, Sitzordnungen etc.) können sowohl dazu dienen, im Verfahren gesamtgesellschaftliche Strukturen abzubilden und zu bekräftigen; sie können aber auch umgekehrt dazu dienen, die spezifischen Verfahrensstrukturen selbst darzustellen und auf diese Weise das Verfahren gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Umwelt abzugrenzen. Die Darstellungsdimension von Verfahren erschöpft sich indes keineswegs in der offenkundigen Symbolik der Insignien, zeremoniellen Handlungselemente usw. Im Unterschied zu dieser gewissermaßen expliziten Symbolik interessiert sich das Projekt vor allem auch für die implizite, nicht formalisierte Symbolik, die latent, aber ebenso wirksam war. Oft übersehen wird etwa der symbolische Überschuß gerade solcher Handlungen, die als streng sachneutral und rational präsentiert werden. Gerade solche symbolischen Mitteilungen sind aber, so ist anzunehmen, für die legitimationsstiftende Wirkung von Verfahren und ihre Rolle für die Reproduktion einer institutionellen Ordnung wesentlich.

Die Einzelprojekte sollen ihr Augenmerk auf konkrete einzelne Verfahrensabläufe, ihre innere Geschichte und Dramatik sowie ihren Wandel im Laufe der Frühen Neuzeit richten. Bereits bestehende Projekte befassen sich mit Gerichtsverfahren zu politischer Delinquenz im England des 17. und 18. Jahrhunderts (André Krischer) und mit frühneuzeitlichen diplomatischen Verfahren und ihrer Rolle bei der völkerrechtlichen Statusdefinition der Akteure (Matthias Köhler). Weitere Projekte sind geplant.